Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2025: Studium und Lehre

„Was Anderes sehen, den Blick erweitern“

Eindrücke einer Promotionsstudentin vom Auslandssemester in Istanbul mit Kind

Ein Auslandssemester ist für viele Studierende Teils ihres Bachelor- oder Masterstudiums. In der Promotionsphase mit Erasmus ins Ausland zu gehen, ist eher selten, mit einem kleinen Kind eine echte Ausnahme. Tugba Colak hat beides gemacht: Sie hat das vergangene Wintersemester mit ihrer Familie in Istanbul verbracht. Der Aufenthalt an der Marmara-Universität war für ihre akademische Entwicklung und den Familienzusammenhalt eine echte Bereicherung.

Vor dem Auslandssemester war ein Gefühl der Ernüchterung: Als Promotionsstudentin am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) der Universität Tübingen war Tugba Colak mit ihrer Dissertation ins Stocken geraten: „Ich musste was Anderes sehen, den Blick erweitern, damit ich weiterschreiben kann,“ sagt sie. Die Aussicht auf neue Perspektiven hat auch ihren Mann überzeugt, damals auch noch Student am ZITh. Die Marmara-Universität kannte Colak bereits von einem Aufenthalt während des Masterstudiums. Für ihren Fachbereich, die Hadith-Wissenschaften, sei die Istanbuler Hochschule eine renommierte Adresse, so die Doktorandin.

Die Frage, ob ihr einjähriger Sohn ein Hindernis fürs Auslandssemester sein könnte, hat sich für das studentische Paar nicht gestellt. „Ich hätte nie gesagt, ich kann das nicht machen, weil ich ein Kind und Familie habe,“ so Colak. Im Studium sei ein Auslandsaufenthalt mit Familie ohnehin leichter zu organisieren als im Arbeitsleben, findet sie. Nach zwei Nachtfahrten, sodass ihr Sohn auf der Reise schlafen konnte, war die junge Familie am Ziel. Über Verwandte hatte sie eine Wohnung anderthalb Autostunden außerhalb von Istanbul bekommen – eine Bleibe in der Stadt hätte sie sich nicht leisten können. „Wenn ich alleine gegangen wäre, hätte ich einen Wohnheimplatz bekommen,“ so Colak, „aber für Familien wird das von der Uni nicht angeboten.“

Obwohl beide Eltern sich voll ihrem Studium gewidmet haben – Colaks Mann hat während des Aufenthalts Lehrveranstaltungen an der Uludag-Universität in Bursa besucht – haben sie die Kinderbetreuung zu zweit gestemmt, „ohne Fremdbetreuung,“ wie Tugba Colak betont. Dazu hat die Promotionsstudentin ihre Seminare an einem Tag gebündelt. In den ersten Wochen brachte ihr Mann den Nachwuchs in der Mittagspause zum Stillen vorbei.

Tugba Colak ist in Deutschland aufgewachsen, ihre Muttersprache ist Türkisch. Trotzdem hat das Studium in Istanbul auch sprachliche Herausforderungen gebracht „Ich schreibe und lese eigentlich auf Deutsch,“ erklärt sie. „Das wissenschaftliche Schreiben auf Türkisch war erst mal eine Barriere.“ Auch zur eigenen kulturellen Prägung hatte Colak Erkenntnisse: „Wenn man in der Diaspora aufwächst, ist man oft stärker an die türkisch muslimischen Werte gebunden, als die dann in der Türkei gelebt werden,“ hat sie festgestellt. Umgekehrt hat sie ein großes Interesse am Leben in Deutschland erfahren. „Man wird sehr herzlich und mit offenem Ohr empfangen. Vielfach wurde ich gefragt: Wie lässt es sich in Deutschland leben? Bist du dort glücklich?“ Die politische Lage in der Türkei sei dagegen selten ein Thema gewesen.

Vom Promotionsstudium an der Marmara-Universität ist Tugba Colak begeistert. „Im ersten Jahr hat man nur Seminare und Vorlesungen in seinem Fachbereich, um sein Wissen zu vertiefen,“ erzählt sie. Erst danach falle die Entscheidung für ein konkretes Dissertationsthema. Auch wenn das bei Tugba Colak schon feststand, hat sie sehr von diesen Veranstaltungen profitiert, auch durch den engen Austausch mit Lehrenden und der kleinen Gruppe von nur vier Kommilitoninnen und Kommilitonen. Das Verhältnis zu den Dozierenden sei sehr eng, so Colak: Mit der Kleingruppe fanden Seminare meist in den Büros der Dozierenden statt, man tauschte Handynummern aus und schrieb sich Nachrichten. „Man weiß auch privat viel voneinander und der Dozent kann auch mal anrufen und fragen, ob man morgen kommt. Aus Deutschland kenne ich so was gar nicht.“

Am Ende ihres durchgetakteten Uni-Tages sei es eine Herausforderung gewesen, auch noch ihrem Sohn gerecht zu werden, berichtet Tugba Colak. „Ich war komplett ausgelaugt, aber ich habe dann ja noch eine Familie, die mich auch braucht.“ Bei aller Anstrengung – die letztlich auch der Alltag in Deutschland mit sich bringt – sei die Familienzeit im Ausland aber schön gewesen: Neues Essen und neue Orte entdecken, darunter auch viele Spielplätze, immer auch ein bisschen Urlaubsgefühl in der Routine, das hat Colak gefallen. Neben ihrem Präsenztag an der Uni war die Studentin auch den Rest der Woche viel mit dem Studium beschäftigt: mit einem umfassenden Lesepensum, der Vorbereitung von Präsentationen und schriftlichen Arbeiten in der Mitte und zum Ende des Semesters. Oft hatte Colak ein Buch in der Hand, während ihr Sohn sich auf dem Spielplatz austobte.

Rückblickend war der Aufenthalt in Istanbul in jeder Hinsicht ein Gewinn, findet die Promotionsstudentin. Zum einen hat das Studium ihr wertvolle Impulse für die inhaltliche Ausrichtung ihrer Doktorarbeit gegeben. Ebenso wichtig war ihr die Begegnung mit Lehrenden. In Tübingen gibt es in den Hadith-Wissenschaften kaum Frauen, sagt Colak – auch das ein Grund, warum sie mit der Arbeit an ihrer Dissertation zuletzt Schwierigkeiten hatte. „Ich hatte kein Zukunftsbild von mir,“ erklärt sie. „Aber in der Türkei gab es viele Dozentinnen. Es war so motivierend zu sehen, dass es Frauen gibt, die akademisch weitermachen, Professorinnen sind und Kinder haben, eine Familie haben – so ein positives Bild hatte ich in Deutschland nicht.“ Mit Blick auf die Familie sei jede gemeinsame Reise eine verbindende Erfahrung, meint Tugba Colak. Wichtig sei es, Herausforderungen mit Liebe anzunehmen und ihnen konstruktiv zu begegnen. „Wir haben gesehen, dass wir auch mit unserem Sohn viel unternehmen können und zugleich in unserer akademischen Arbeit weiterkommen. Wir sind da auch als Familie noch zusammengewachsen.“

Tina Schäfer

Erasmus mit Kind

Studierende mit Kind(ern), die einen Erasmus-Semesteraufenthalt machen, können mit der Bewerbung für das Mobilitätsstipendium einen Kinderzuschlag von monatlich 250 Euro beantragen. Dieses sogenannte Social Top Up wird tagesgenau berechnet und kann für maximal 90 bzw. 180 Tage finanziert werden (Stand 2024/25).

An manchen Erasmus-Partneruniversitäten können Studierende mit Kind bzw. Familie für ihren Aufenthalt einen Wohnheimplatz bekommen. Die konkreten Möglichkeiten müssen jeweils im Einzelfall geklärt werden. Interessierte Studierende sollten frühzeitig mit der Planung beginnen und sich im International Office beraten lassen.

Kontakt: outgoingspam prevention@erasmus.uni-tuebingen.de 

Weitere Informationen:

OSZAR »